Gleiwitz - Gliwice in der Literatur
Die umfangreiche, 1978 in Polen veröffentlichte Monographie, beschreibt das frühere Gleiwitz als provinziellen, bis 1945 einem fremden Staat unterworfenen Ort, dessen polnische, vorwiegend proletarische Bevölkerung verbissen gegen deutsches Kapital und den deutschen, Hegemonie anstrebenden Nationalismus kämpfte. Beweisen sollten es verblichene Fotografien armseliger, an verfallenen, engen Straßen liegende Arbeiterhäuser.
Die spätere Verwandlung der Stadt in ein Zentrum hoch spezialisierter Industrie und technischer Wissenschaften wurde als gewaltige Umgestaltungsmaßnahme neuer, sozialistischer Führungskräfte dargestellt.
Zum Beginn einer befreienden, zukunftsorientierten Ära erklärt, hatte das Jahr 45 für Gleiwitz tatsächlich schicksalhafte Folgen - nach Verschiebung der Grenzen war es nun polnisch, Teil einer Volksrepublik, die sich selbst als ethnisch einheitlich verstehen wollte. Auschwitz lag
70 Kilometer von Gleiwitz entfernt, Deutschland wurde zum Synonym industrieller Menschenvernichtung - die Vergangenheit einer Stadt, in der der Zweite Weltkrieg symbolisch seinen Anfang nahm, konnte kaum Interesse wecken, ihre Geschichte in vollem Ausmaß zu verstehen, schien unmöglich.
„In Schlesien sprechen sogar die Steine Deutsch“ – wer sich nach 1945 dieser Metapher bediente, vergas, dass sie vom Grauen des Krieges erzählten, in Gliwice, dem früheren Gleiwitz blieben an Wänden vieler Häuser breite weiße Markierungen, die auf Luftschutzkeller hinwiesen.
1945 standen im Zentrum der Stadt Mauern eines ausgebrannten, toten Gebäudes, zerstört war auch der Ring, nur Europas schwärzester Fluss, die Klodnitz, trieb ihre Wasser unbeirrt zur Oder. (Daran hatte sich nichts geändert). Was blieb, muss Umsiedlern aus dem Polnischen Osten klein und hässlich vorgekommen sein, besonders im Vergleich zur Größe und Schönheit Lembergs, aus dem so viele von ihnen kamen. Sie bezogen sie fremde, von Deutschen verlassene Wohnungen, in Lemberg nahmen Ukrainer oder Russen ehemals polnische Häuser in Beschlag. Paradoxien Europäischer Geschichtsentwicklung wurden zum Schicksal früherer und neuer Bewohner der Stadt, dass sie später zum Thema der Literatur werden sollte, vermutete damals wohl keiner. Auch deutsche Dichter stellte die Frage, ob man nach Auschwitz überhaupt noch schreiben könne.
Im Vergleich zu Warschau, Breslau oder Dresden wenig zerstört, kehrte Gleiwitz also „ins Polnische Mutterland zurück“ – daran erinnerte eine gusseiserne Tafel am zunächst ausgebrannten, bald aber wieder hergerichteten Gebäude. Vor 1945 war es das größte und eleganteste Oberschlesische Hotel, jetzt fand hier die Stadtverwaltung ihren Platz - der alte Springbrunnen davor blieb erhalten, drei gusseiserne Faune auf dessen Beckenrand tanzten so unbekümmert und fröhlich, als hätte sich gar nichts verändert.
Kinder der neuen Gleiwitzer Bürger lernten gerade erst schreiben, mit spitzen Metallfedern kalligraphierten sie „Lang lebe Joseph Stalin“ - in Klassenzimmern, wo Portraits sozialistischer Führer hingen, Schulbänke und Tafeln aber noch aus Deutscher Zeit stammten.
Im Westen grenzte Schlesien weiterhin an Deutschland, - an das (wie Kinder es lernten) Gute, Freie, für immer Demokratische. Sein anderer Teil, die Bundesrepublik wurde zum Inbegriff feindlicher Kräfte, zur Heimat der Revanchisten und aggressiver, bedrohlicher Vertriebenenverbände. Konrad Adenauer im weißen Mantel der Kreuzritter weckte Unwohlsein, auch bei den Jüngsten, die Kriege nicht kannten - Kreuzritter erschlugen Frauen und Kinder, man wusste es, im Gleiwitzer Kino „Bajka“, wie überall in Polen, wurde Aleksander Fords Film darüber gezeigt. Nicht weniger aufwühlend war Der Anschlag auf Kutschera oder Die Verteidigung der Polnischen Post in Danzig.
Polen hatte Millionen seiner Bürger verloren, tief verletzt, behielten Überlebende den Krieg als Zeit der Verachtung im Gedächtnis und empfanden die darauf folgenden Nachkriegsjahre als tragische historische Ungerechtigkeit.
Literatur jedoch, wenn sie nicht zum tendenziösen Werkzeug der Politik werden will, reißt Wunden auf, lebt von Unruhe, Konflikten und größtem Dreck. Sie hat aber auch die Kraft zu vermitteln. Künstlerisch eindrucksvoll hatte es Grass bewiesen - seine Blechtrommel (1959 veröffentlicht) ist den Polen längst zum Klassiker geworden, nicht zuletzt dank Volker Schlöndorffs Oscar prämierten Verfilmung, mit Daniel Olbrychski in einer der tragenden Rollen. Danzigs Kriegsrealität wird sowohl im Roman als auch im Film aus der Sicht eines Kindes geschildert, das sich weigert, erwachsen zu werden - allein diese Erzählperspektive löste in der Bundesrepublik Kontroversen aus. Vor allem jedoch inhaltlich brach die Blechtrommel Tabus – Grass wagte es, Schicksale des ehemals zu Deutschland gehörenden Gebietes als politisch und historisch vielschichtigen Sachverhalt darzustellen. Hans Mayer nannte es eine Schocktherapie.
1976, wesentlich später also, entstand Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster. In Landsberg, dem späteren Gorzów Wielkopolski geboren, verließ die Autorin ihre Stadt, ohne Hoffnung, sie je wiedersehen zu dürfen. Durch politische Entscheidungen der DDR-Führung wurde dies gefestigt - Heimatverlust wollte man, gerechter Weise, als Folge Deutscher Schuld verstehen und belegte Einzelschicksale der Ausgesiedelten mit verordnetem Schweigen.
Ihre künstlerische Aufgabe sah Christa Wolf jedoch im enthüllen „ blinder Flecken“, zu denen auch ihre Kindheit und frühe Jugend gehörten. Als damals schon bedeutendste Schriftstellerin der DDR besuchte sie 1971 den ehemaligen Heimatort, um Vergangenes aus eigener Sicht aufleben zu lassen.
Anders als Grass, dessen Protagonist ein nicht wachsen wollendes Kind ist, wählte Christa Wolf die Perspektive des „Icherzählers“ – seine Identität mit der Spuren suchenden Autorin wird bewusst hervorgehoben.
Hans Mayer, (deutscher Jude, Humanist, zweifacher Emigrant, erst aus dem Nazideutschland, später aus der DDR, Professor der Leipziger und dann der Tübinger Universität), beurteilte Christa Wolfs Werk ungewöhnlich kritisch, er nannte es ein „Erinnern mit beschränkter Verantwortung“. Erst in den neunziger Jahren war Mayer bereit, Grenzen des Bewusstseins, die sich seine ehemalige Studentin beim Beschreiben verlorener Landschaften auferlegte, zu akzeptieren und als grundlegende Möglichkeit des Schreibens, (heute würde man sagen, in Zeiten des real existierenden Sozialismus) zu entschuldigen. Empfänger politisch so geprägter Gegenden konnten gut zwischen den Zeilen lesen, auch früher verfehlte das Buch sein Ziel also nicht.
Zwei große deutsche Schriftsteller – der Danziger Günter Grass (Jahrgang 1927) und die aus Westpreußens ehemaliger Grenzmark Posen stammende Christa Wolf (Jahrgang 1929) erschlossen mit ihren Werken einen weiten, menschlich, politisch und künstlerisch kontroversen Kontext, in dessen Bereich auch das Schaffen Horst Bieneks angesiedelt ist.
Der aus Gleiwitz stammende deutsche Oberschlesier (Jahrgang 1930) verlässt infolge historischer Zwänge 1945 seine Stadt, wird in der DDR politischer Rebellion gegen die Sowjetunion bezichtigt und zu 25 Jahren Zwangsarbeit in den Kohlenwerken Workutas verurteilt. Vier Jahre später, nach Stalins Tod freigelassen, kehrt er nach Deutschland zurück, diesmal in die Bundesrepublik, wo er ungewöhnlich aktiv arbeitet - als Lektor, Filmemacher, Publizist, vor allem aber als Schriftsteller. (In der Geschichte polnischer Intelligenzija kann man unendlich viele, politisch ähnlich geprägte Lebensläufe finden).
Das ihm so gut bekannte Oberschlesien portraitiert Bienek (eigentlich leidenschaftlicher Lyriker) im Romanzyklus, der sechs Jahre des Gleiwitzer Lebens umfasst. Erzählzentrum einzelner Teile sind schicksalhafte, historische Ereignisse - der 31 August, als letzter Tag vermeintlichen Friedens, der September 1939 als erster Kriegsmonat, der Karfreitag 1943, an dem auf Görings Befehl, wie überall in Deutschland auch Gleiwitzer Kirchenglocken beschlagnahmt wurden, (Metall brauchte man für den Krieg) und schließlich der Januar 1945, als alles in Schutt und Asche zerfiel.
Die Bienek zweifellos bekannte Blechtrommel zeigt eine der Welt zugewandte, über Jahrhunderte politisch und kulturell einflussreiche hanseatische Hafenstadt. Gleiwitz, im Vergleich dazu provinzieller, war mit Danzig jedoch schicksalhaft verbunden. In Gleiwitz hatte symbolisch, in Danzig militärisch der Zweite Weltkrieg begonnen, beides waren multinationale, umworbene Grenzstädte, aus beiden flüchteten 1945 ihre deutschen Bewohner. Die Danziger ertranken zu Tausensen in der Ostsee, Gleiwitzer starben während der Flucht Richtung Westen auf Landstraßen, viele kamen dann in Dresden um, in der Bombennacht des 13-ten Januar.
Für Gedichte war das Thema zu Umfangreich, bewusst wählte Bienek den epischen Roman, eine längst in Frage gestellte, dem Zeitgeist und literarischen Erwartungen nicht entsprechende, als verbraucht abgetane Gattung. Schon den ersten, 1975 veröffentlichten Teil seines Zyklus bestimmt die klassische Einheit von Raum und Zeit – das geschäftige Walten der Gleiwitzer Musiklehrerin Valeska Piontek wird hier innerhalb eines Tages dargestellt – am 31 August richtet sie ihrer Tochter die Hochzeit aus, im „Haus Oberschlesien“, dem großen, eleganten Hotel, wo später, nach 1945, die Stadtverwaltung des Polnischen Gliwice einziehen sollte.
Neben der Protagonistin Valeska werden zahlreiche, ihr gleichgestellte Figuren beschrieben - psychologisch ebenso glaubhaftwürdig motiviert, repräsentieren sie das aus sozial und ethnisch unterschiedlichen Bausteinen zusammengefügte Oberschlesien. Sinnstiftend ist die Geschichte Georg Montags, eines pensionierten Beamten, der in Valeska Pionteks Gartenhaus Zuflucht findet und sich dort von der Welt zunächst abgeschirmt fühlt. Montag, selbst Enkel eines aus Odessa geflüchteten Juden, im eigenen Empfinden deutscher Kultur zutiefst verbunden, fängt an über Wojciech Korfanty zu schreiben, den umstrittenen (unglücklichen) Politiker – als Oberschlesier hat Korfanty deutsche und polnische Vorfahren, entscheidet sich aber für Polen. Die zwei, parallel dargestellten Lebensläufe, enthüllen Absurditäten politisch geschaffener Konflikte, deren Wurzeln in gewaltsamer Trennung „ethnischer“ und subjektiv verstandener nationaler Zugehörigkeit liegen. (Beide Begriffe sind unscharf und können nur mit größter Vorsicht benutzt werden) Bevor Valeska Gleiwitz 1945 verlässt, findet sie Montags Manuskript, kurz vor dem Selbstmord hatte er es in ihrem Garten vergraben.
Der 1975 veröffentlichten Ersten Polka folgten weitere Teile – mit großem Detailreichtum rekonstruieren Septemberlicht, Zeit ohne Glocken, Erde und Feuer die bis 1945 am weitesten im Osten gelegene deutsche Stadt, in der sich schleichend das Bewusstsein nahender Katastrophen verbreitet – Gleiwitzer Bürger tragen Lasten politischer Entscheidungen, sind aber darin selbst eigebunden und lange bereit, vieles mitzugestalten. Bestraft werden sie dann zweimal – als Deutsche und als Oberschlesier.
Schon dadurch sprengt die Tetralogie den Rahmen regional begrenzter Heimatromane, Gleiwitz wird zum Gleichnis, zum Sinnbild aller „Grenzorte“, deren Reichtum, letztlich aber Tragödie ihre ethnische, soziale, kulturelle und historische Vielfalt ist.
Im Romanzyklus stützt sich Bienek auf weitreichende Recherchen – seine strikt autobiografischen Schriften (wie Die Beschreibung einer Provinz) dokumentieren akribisch genau Einzelschicksale real existierender Menschen, die bis 1945 in der Stadt lebten und sie dann auf unterschiedlichsten Wegen verließen. Romanhaft Erzähltes wird dadurch vervollständigt - aus persönlicher Sicht eines Menschen, der (obwohl, oder weil) selbst schmerzlich betroffen, politisch Schwieriges und historisch Verworrenes objektiv darstellen will.
In der Bundesrepublik (in der DDR war der Roman offiziell unbekannt) reagierte man auf Bieneks Gleiwitzer Tetralogie stürmisch. Auch als Person wurde er zum Gegenstand schärfster Angriffe, vor allem Oberschlesicher Geschichte bezichtigten und somit zum Verräter an der heiligen Sache machen wollten.
Obwohl Heinrich Böll die Erste Polka und weitere Teile des Romans als epische Chronik bezeichnete, als düsteres Epitaph einer einst deutschen Provinz, hatte die Tetralogie aus künstlerischer Sicht keinen Enthusiasmus geweckt. Jan M. Piskorski, ein polnischer Historiker jüngerer Generation schreibt jedoch, Bieneks Werk habe ihm und vielen anderen Polen die Augen für Probleme ausgesiedelter Deutschen geöffnet. Ohne Zweifel war es auch dank der etwas verachteten Romanform möglich - traditionsgemäß erlaubte sie Bienek, lange Zeitabschnitte zu erfassen, diese aber, durch Verzicht auf einen omnipotenten, kommentierenden Erzähler aus der Perspektive erlebender Figuren darzustellen. Somit konnten historische Vorgänge glaubhaft in Einzelschicksalen personalisiert und vom Leser empathisch miterlebt werden.
Aus anderer, weit weniger politisch geprägter Sicht, wurde der Romanzyklus von bestimmten Lesern in der Bundesrepublik ganz besonders kritisch aufgenommen. Nicht ohne einen kleinen (oder gar großen) Snobismus wollten „Alte Gleiwitzer“ ihre unter Zwang verlassene Stadt als bedeutend, schön und vor allem elegant beschrieben wissen. In der Tat, von Bienek vorwiegend proletarisch oder höchstens kleinbürgerlich dargestellt, hatte Gleiwitz auch seine „Schönen Reviere“. Auf der rechten Seite der Wilhelmstraße (vom Bahnhof aus gesehen) lebten Direktoren großer Schlesischer Bergwerke, Unternehmer, Architekten, Juristen, Journalisten, Zahnärzte und Maler. In verglasten Bücherschränken standen Meiers Leder gebundene Lexika sowie Werke deutscher und anderer europäischer Klassiker. Im Gedächtnis bewahrte Gleiwitzer Geschäfte waren nicht weniger elegant, als die in Breslau oder Berlin, das Gleiwitzer Theater (es gab nur eins) hatte einen herrlichen, von Hand gestickten Vorhang.
Kleine Mädchen aus gutem Hause trugen schwarze Lackschuhe, dunkelblaue Kieler Mäntelchen und dazugehörige runde Mützen. Jungen zog man Tweed Anzüge und Norwegerpullover an, Krawatten waren nur sonntags angesagt. Geachtet wurde auf gute Tischmanieren (gerade sitzen) und aufs Erlernen von Fremdsprachen (vorwiegend Englisch). Den Kaffee nahm man in Rosenthaler Porzellan zu sich, verbrachte den Urlaub im tschechischen Karlsbad, wählte bei Herzbeschwerden Bad Landek oder ging zum Skifahren ins unweit gelegene Riesengebirge. Beim Betreten des Café Schnapka am Ring knallten junge Frauen mit der Tür, um zu betonten, dass sie Thomas Mann lasen und sich Madame Chauchat verbunden fühlten.
Spuren eines solchen Lebens kommen bei Bienek nur einmal vor, im letzten Teil seiner Tetralogie - Kotik Ossadnik, Sohn eines Eisenbahners, bricht in die im Januar 1945 von ihren Bewohnern verlassene Villa ein, am Rande des Parks, der später, zu polnischen Zeiten, nach Chopin benannt wurde. In diesem, sein ganzes Denken schon seit langem beherrschenden Haus, verbringt der Fünfzehnjährige zwei fiebrige, somnambule Nächte, erfährt den ersten Liebesrausch, nimmt beim Verlassen ein wohlriechendes Stück Seife und Nietzsches Zarathustra mit - beides, wie er selbst, Strandgut der Geschichte in einer verstummten, sterbenden Stadt.
Später, nach Europas größter Entwurzelung, die sowohl Deutschen als auch der Polen betraf, hatten Gleiwitzer Schicksale lange keine Beachtung gefunden. In der als ethnisch einheitlich deklarierten Volksrepublik wurden Oberschlesier zu eindimensionalen Figuren verkürzt und somit zu stimmlosen, ungebildeten, politisch unzuverlässigen Ureinwohnern herabgestuft. Dieses aus politischem Kalkül entstandene Bild bestätigte sich nicht in persönlichen Kontakten alter (also deutscher) und neuer (also polnischer) Gleiwitzer Bürger. Aus nahe gelegen, anständig gebauten Dörfern, kamen sehr bald Schlesische Bäuerinnen zum Putzen - man schätzte ihren Fleiß, ihre Genauigkeit und überließ ihnen nicht selten auch die Betreuung der (polnischen) Kinder. (Treue oberschlesische Hausgeister in längst polnischen Küchen.) Nach 1956 hatten die letzten Deutschen, bezeichnet als Autochthonen Gleiwitz verlassen, wer dann noch blieb, gehörte dazu. Ältere wurden nur am ungelenken, etwas lächerlich klingenden Polnisch erkannt.
Erst 1991, und auch da vorwiegend der eigenen Familiengeschichte untergeordnet, wird Gleiwitz von Adam Zagajewski beschrieben, im autobiografisch geprägten Essay Zwei Städte. Thematische (auch ideelle) Dominante ist hier die vielfache Entfremdung eines Jungen, der im ehemals deutschen Gliwice aufwächst, im früher polnischen Lwów jedoch zur Welt kam. Das Entzücken seiner ersten Welterkenntnis problematisieren die ihn umgebenden Erwachsenen - in einer fremden, kurz vorher noch deutschen Stadt, erleben sie, (aus Lwów vertrieben), eine ihnen ebenso fremde, von Entscheidungen der Großmächte aufgezwungene politische Gegenwart.
Gleiwitz, früher Grenzstadt des Deutschen Großreiches, jetzt ein ungewollter, von geschichtlicher Willkür zugewiesener Wohnort, wird zwar langsam domestiziert - es bleibt aber nur eine Kulisse, ein stummes Bühnenbild, bestenfalls ein Dach über dem Kopf. Nur der Himmel darüber, Sonnenaufgänge, Abendrot, Bäume und Vögel stehen außer Verdacht; sie haben keinen politischen Hintergrund, können also angenommen werden - vorbehaltlos, wie auch die auf verbliebenen deutschen Grammophonplatten festgehaltene Musik.
Eine so erlebte, unzuverlässige, gespaltene Tatsächlichkeit hinterlässt Spuren, bezeichnet
Weltverständnis und die conditio humana des erwachsenen Erzählers: „Verwurzelte Menschen – schreibt Zagajewski – sterben dort, wo sie geboren sind, (….) ein Heimatloser dagegen ist, wer durch Zufall, durch Launen der Geschichte, aufgrund eigener Schuld oder des ihm eigenen Temperaments keine nahen und herzlichen Verbindungen mit seiner Umgebung in der er aufwuchs und reifte, eingehen wollte oder konnte. Als Heimatloser schläft man nicht unter Brücken oder auf verlassenen U-Bahnstationen. Es bedeutet nur, das eine mit diesem Mal gezeichnete Person keine Straße, keine Stadt, keinen Ort nennen kann, der sein Zuhause ist, seine, wie man zu sagen pflegt – kleine Heimat.
Schon früher, in dem seinen Eltern gewidmeten Gedicht Nach Lwów fahren (Jechać do Lwowa) stellt Zagajewski die Frage Warum muss jede Stadt zum Jerusalem werden und jeder Mensch zum Juden?
Gleiwitz bleibt im Text ungenannt, die Antwort Jerusalem ist überall bezieht sich jedoch ebenso auf dessen historische Geschicke.
Ein ehemaliger Bewohner (in nur für die Familie bestimmten Erinnerungen) nennt das Jahr 1945 annus horribilis (Latein hatte er noch in seiner Gleiwitzer Schule zu lernen begonnen), begreift das Verlassen der Stadt als Anfang einer Odyssee, einer Irrfahrt, die jedoch nie nach Itaka zurückführen kann. Orte der Wiederkehr gibt es nicht mehr, auch Topoi literarischer Tradition werden zerstört, Jerusalem und das vermeintlich glückliche Itaka haben nur noch den gemeinsamen Nenner menschlicher Tragödie.
Nicht einem Zufall ist es also zuzuordnen, dass Gleiwitz in der polnischen Nachkriegsliteratur noch einmal erscheint, auch diesmal im autobiographisch geprägten Text - Julian Kornhauser, der Verfasser, kam 1946 zur Welt, Gleiwitz hieß damals schon Gliwice.
Das kleine, am Stadtrand gelegene Haus seiner frühen Kindheit und die spätere Mietwohnung näher des Zentrums sind Erkennungszeichen der lyrischen Topographie eines Jungen, die vom erwachsenen, mit ihm jedoch mutatis mutantur identischen Erzähler dargestellt ist. Ungespalten, als sicher und freundlich empfunden, werden Raum und Zeit erst durch die später wahrgenommene Abstammung der Eltern problematisiert - die Mutter des Erzählers ist deutsche Oberschlesierin, der Vater polnischer Jude. (Wenn es nicht Tatsachen entspräche, könnte man es als kunstvoll ersonnene Metapher bezeichnen). Ein immer gleichbleibend zärtlicher „Blick zurück“ bleibt dennoch im Text dominant - sine Ira et Studio lässt der Erzähler Bilder eines glücklichen, fast mythischen Anfangs entstehen - aus der gleichen, lyrischen Perspektive eines heranwachsenden Jungen wird auch die verworrene Oberschlesische Nachkriegszeit beschrieben. Sowohl erschütternde Schilderungen der Gewalttätigkeit seiner Schulkameraden, die prüfen wollen, ob er beschnitten sei, als auch die traumatisch empfundene Einführung in die Gleiwitzer Jüdische Gemeinde, scheinen seine Weltsicht nicht zu zerstören –Gliwice bleibt nur das Land glücklicher Träume und ein vollendetes, endgültig abgeschlossenes Kapitel. Halbwegs erwachsen, widersetzt sich der Erzähler Wünschen des Vaters, will nicht den von ihm vorgeschlagenen „ordentlichen Beruf“ anstreben, verlässt also die technisch dominierte Stadt - im universitären, eindeutig polnischen Krakau wird er Literatur studieren, (die Südslawische), das Mütterliche Erbe abstreifen und an die väterliche Tradition anknüpfen.
In den Neunzigern konnte dieses Curriculum Vitae ohne Probleme erscheinen, wenige Jahre zuvor wäre es vermutlich verboten worden. Obwohl die Welt hier als Raum frühen Glücks dargestellt wird, leuchtet Oberschlesiens lange tot geschwiegene ethnische Vielfalt deutlich hervor. Die zu Oberschlesien (und andere Regionen der Welt) oft so eindringlich gestellte Frage nationaler Zugehörigkeit, hat der Erzähler jedoch nicht thematisiert, auch wenn seine Lebensbeschreibung dazu Anlass gibt. Darüber nachzudenken bleibt dem Leser überlassen.
Im Kontext europäischer Nachkriegsgeschichte wird Gleiwitz noch einmal zum Gegenstand der Beschreibung - John Sack, 1930 in New York geboren, Kriegskorrespondent in Korea, Vietnam, Irak und Jugoslawien, spricht darüber in Auge um Auge. Geschichte der Juden, die Rache für den Holocaust suchten. (Während seiner Recherchen lebte Sack einige Zeit in Gliwice). Leitfigur seines Textes ist eine aus Będzin stammenden Jüdin, die während der deutschen Besatzung Mutter und Tochter verliert, im Vernichtungslager Auschwitz dennoch ungebrochen ums eigene, aber auch um das Leben anderer kämpft. Lola Potoks heldenhafter (Sack benützt dieses Adjektiv nicht), zäher Widerstand verneint antisemitisch geprägte Bilder des Juden als passiven Opfers, ist aber nur Vorgeschichte, Initialstadium aller weiteren
Entwicklungen. Zum eigentlichen Kernproblem entfaltet sich Lolas Werdegang nach Kriegsende - abgemagert, krank vor Hass, wird die kaum Zwanzigjährige Kommandantin des Gleiwitzer Gefängnisses. Es geschieht auf ihren eigenen Wunsch - mit anderen im Polnischen Sicherheitsdienst angestellten jungen Juden quält sie die einheitlich für Nazis gehaltenen Deutschen und folgt dabei kurz vorher in Auschwitz erlebten Mustern.
Dieses dunkle Kapitel wollte Sack als Tragödie derer schildern, die von Opfern zu Tätern wurden. Sein Recht, so Schwieriges darstellen zu dürfen, erklärt er mit der Tatsache, selbst Jude zu sein: „Die Mutter meiner Mutter - schreibt Sack in der Einleitung seines Buches - stammt aus Krakau, vierzig Kilometer von der Stadt entfernt liegt Auschwitz. Wenn sie und meine anderen Großeltern in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht nach Amerika ausgewandert wären, hätte man mich, damals zwölfjährig, nach Auschwitz gebracht.“
Der Talmud lehrt, nicht die Wahrheit sei Sünde, sondern das Schweigen darüber…
In der Bundesrepublik hatte man wohl selten so dramatisch auf ein Buch reagiert, das Schicksale Holocaustüberlebender beschrieb. Vom Piper Verlag vorbereitetet, wurde die fertige Auflage eingestampft, später aber vom Hamburger Verlagshaus „Kabel“ auf den Markt gebracht.
Nicht minder widersprüchlich waren dann auch Beurteilungen des Buches. Einige begrüßten es enthusiastisch als objektive, da von einem Juden verfasste Darstellung der Tragödie deutscher Oberschlesier im Nachkriegs-Polen, viele sahen darin vor allem ein verletzend überzogenes Bild jüdischen Verhaltens. Dementsprechend bezeichnete man Sack entweder als drittrangigen Schreiber oder als bekannten Publizisten, dessen Vietnam-Buch amerikanische Schulen als Pflichtlektüre empfahlen.
Obwohl die künstlerische Gestaltung allgemein bemängelt wurde, musste man zugeben, dass der Vorwurf historischer Beliebigkeit haltlos sei: Sack stützte sich sowohl auf polnische und deutsche Dokumente der in Entnazifizierungslagern durchgeführten Verhöre, als auch auf Aussagen von 150 Zeitzeugen. (Mit Lola Potok hatte er persönlichen Kontakt aufgenommen).
Dass Hassgefühle der Juden, ihr Verlangen nach Vergeltung mit ungläubiger Erschütterung aufgenommen wurden, weckte zwar Erstaunen, aus Gründen (falsch verstandener) politischer Correctness wurde das Buch dennoch als Beleidigung der Holocaustopfer empfunden und kritisiert. Wahre Begebenheiten sind politisch selten richtig - tatsächlich hatten nach 1945 jüdische Lagerkommandanten und Aufseher die deutsche Oberschlesische Zivilbevölkerung gequält - erschreckend wirkte nur, wie beharrlich man in manchen Besprechungen Deutsches
Verschulden dabei ausgeklammerte. Von Umständen und Lesart abhängig, bestätigte das Buch also entweder den Antisemitismus, oder einen in seiner Umkehrung schleimigen Philosemitismus, der die Juden in geheimnisvolle, menschlicher Dimension enthobene Produkte verlogener Phantasien verwandeln will.
Ebenso verstört reagierte man auf Sachs Buch in Polen – gewissermaßen bestätigte es ein unterschwellig existentes, vereinfachtes, auf unvollständigen Tatsachen und politischer Willkür aufgebautes Bild der Juden, die oft als Kommunistische Handlanger der Sowjetmacht gesehen wurden. („Nur die Juden, vom langen Sterben ermüdet, schwiegen“, schrieb Adam Zagajewski, er aber ist Dichter).
Wie viele andere, versuchte Jan M. Piskorski, Kenner Europäischer Nachkriegsgeschichte, dieses traumatische Phänomen zu erklären: Fast alle Juden begrüßten die Rote Armee mit offenen Armen. Aus Dankbarkeit, mit dem Glauben auf eine nach Jahren der Leiden bessere Zukunft, waren viele von ihnen bereit, mit der Moskau gefügigen Lubliner Regierung zusammenzuarbeiten, was Polen wiederum als Verrat nationaler Interessen ansahen. Im neuen, kommunistisch regierten Land hatten Polen vor den Russen Angst, Juden vor Polen, oder vor Polen und Russen. Im Grunde aber widersprach die Kommunistische
Gleichschaltung Jüdischen Traditionen, sie flohen also, am häufigsten über Szczecin, (Stettin) eine nach dem Krieg fast vollständig jüdische Stadt. Dazu bewogen wurden sie durch Pogrome, zu denen, als bekanntester, der in Kielce gehörte - überzeugt, dass dortige Juden Kinder für Ritualmorde geraubt und getötet hatten, brachte eine wütende Menge im Juli 1946 vierzig jüdische Mitbürger um.
Gleiwitz, dann Gliwice, weder groß, weder besonders schön (bestenfalls geliebt) wurde also nicht zufällig von der Literatur in Augenschein genommen und in Texten beschrieben, die sehr unterschiedlich gelesen werden können. In der Realität dring jedoch immer Geschichtliches hervor - wenn jemand sagt, er lebe in Gliwice, wird dies auch jetzt noch vom zweiten, mit der Subjunktion „aber“ angeschlossen Hauptsatz ergänzt. Der reinen Tatsache fügt man hinzu (ohne das „Aber“ zu vergessen), die Eltern kämen aus Lwów, Przemyśl, Wilno, Sambor, Warszawa oder Kraków. Wenn ein Kommentar dieser Art ausbleibt, folgen Fragen. Keineswegs auf Grund unhöflicher Neugier - wer auf Gliwice als Geburtsstadt oder Wohnort hinweist, wird zu Erklärungen veranlasst. Auch in Deutschland ist es nicht anders. Die Feststellung: Ich lebe (oder gar ich bin geboren) in Stuttgart, Berlin, München oder Bochum, begleitet der Einwand: aber meine Eltern stammen aus Gleiwitz. Auch hier zwingt das Erwähnen der Oberschlesischen Stadt zu Deklarationen und oft weit ausholenden Bekenntnissen. (Ilja Ehrenburgs Romanheld, der arme russische Jude Lasik Roitschwanz fragt Gott vorwurfsvoll, warum er ihn nicht in einem Land wie die Schweiz hat zur Welt kommen lassen…).
Was jedoch wäre Gleiwitz ohne seine Geschichte? Vermutlich ärmer um eine große Erfahrung (die immer schwierig ist - nicht zufällig „erfährt“ man Schmerz). Dass „Erfahren“ dem Wort „fahren“ verwandt ist, kann kaum als leichtfertiger Scherz der Semantik gesehen werden. Substantiv und Verb erinnern, wie eng Bewegung und Perspektivwechsel mit Weltkenntnis verbunden sind - Gleiwitzer Lebensgeschichten werden immer öfter zum Auslöser von Gedanken über den Wahnsinn politischer Machtansprüche, politisch instrumentalisierter Nationalismen, daraus hervorgehender, negativ verstandener Grenzen, manchmal aber auch positiv empfundener Grenzüberschreitungen.
Gleiwitz – Gliwice ist jedoch als Ort des Zusammenpralls von Kulturen, Religionen und Traditionen keineswegs ein Ausnahmefall - weder in Europa noch in anderen Teilen der Welt. Wie Oberschlesien im Osten, so war Elsas an Deutschlands westlicher Grenze lange Zankapfel, aber auch Verbindungsglied zweier zerstrittener Nationen. Der als ewig deklarierten Deutsch-französischen „Erbfeindschaft“, entsprach die Redensart nie würde ein Deutscher dem Polen zum Bruder werden.
Es ist also sicher kein Zufall, dass der Elsässer Tomi Ungerer menschliche Schwächen mit solch scharfem, obwohl nicht gnadenlosem Spott bloßstellt - deutsche wie französische Lächerlichkeiten sieht er mit gleichem, gerecht verteiltem Sarkasmus, den deutschen Stiefel hasst er ebenso wie den französischen Pantoffel, eine seiner Ausstellungen trug den Titel: Zwischen Mariann und Germania. In der Geschichte und den Sprachen zweier Länder beheimatet, hebt Ungerer hervor, weder Deutscher, noch Franzose zu sein. (Objekt seiner Betrachtung sind Menschen, Einwohner der Erde, die wohl nur aus größter Entfernung als Blauer Planet gesehen werden kann). Sich selbst bezeichnet Tomi Ungerer als leidenschaftlichen Europäer - obwohl und weil er aus einer Region stammt, die lange Brennpunkt politischer Katastrophen und nationalistischer Absurditäten war.
Fast ins Idyllische umgeschlagen, ist Deutschen das Elsässische Straßburg längst zum Sinnbild guter Küche und hervorragender Weine geworden. All das können sie hier problemlos bestellen, in Straßburg versteht man Deutsch. Allerdings muss berücksichtigt werden (nicht ohne Trauer der Betroffenen), das sich deutschfranzösische Nachbarschaft unter politischen Voraussetzungen entwickelte, die nach dem II Weltkrieg in Osteuropa, (also auch in Oberschlesien und dem zufolge in Gleiwitz-Gliwice) lange unmöglich waren.
Gleiwitz-Gliwice, bei weitem nicht so schön wie Straßburg (gelitten darunter hatte es nie, kaum jemand kam je auf den Gedanken, diese Städte zu vergleichen) wird auch in einem fast heitereren Kontext erwähnt - 1993 erschien das Buch Pszoniak & Co, oder die Gesellschaft guten Essens - dem Titel entsprechend geht es hier vorwiegend ums Kochen und ums Genießen. Darauf bezogene Ratschläge beginnen dennoch mit einer ausführlichen Schilderung früher Kindheitserlebnisse des Verfassers. 1945 war Wojciech Pszoniak mit seinen Eltern nach Gliwice aus Lemberg (heute Ukraine) geflüchtet - wie immer, wenn es um diese beiden Städte und das Jahr 1945 geht, kommt also zwangsläufig Politisches und Geschichtliches zur Sprache.
Im Gedächtnis behielt Pszoniak zwei Bilder der verlassenen Heimatstadt: das Lemberger Haus und dessen Keller, wo unzählige Menschen beim Flackern einer einzigen Kerze Bombenangriffe abwarteten. Er erinnert sich auch an die vier Wochen dauernde Reise - erst im Lastwagen und später im Viehwagon. (In Memoiren geflüchteter Oberschlesier wiederholen sich solche Motive spiegelbildlich)
Mit dem letzten Transport aus Polens ehemaligen Ostgebieten angekommen, wohnt Pszoniak in der Gleiwitzer Arkońska Straße, wo er Adam Zagajewski kennen lernt, einen damals noch kleinen, unartigen Jungen (heute kaum vorstellbar) der ständig so hüpfte, dass in der Wohnung darunter unruhig die Lampen tanzten. Um einige Jahre als Zagajewski älter, hatte ihm Pszoniak etwas voraus – er behielt zwei kostbare Bilder des verlorenen Lwów in Erinnerung.
Das Leben meiner Eltern- schreibt Zagajewski- wurde in zwei Teile zerschnitten- in das vor und das nach der Ausreise. So wurde auch mein Leben geteilt, wobei vier in dieser wunderbaren Stadt verbrachte Monate in keinem Verhältnis zu vielen Jahren einer erwachsenen Existenz gestellt werden können. Und doch, wo auch immer ein Leben zerschnitten wird, zerfällt es in zwei Teile. Wenn ich acht Monate in der Stadt gelebt hätte, wären Mathematiker zufrieden, da es aber so nicht geschah, können nur Mystiker sich freuen – die vier in Lwów verbrachten Monate erglühen im Glanze der Epiphanie.
1986, am 21 November, war Adam Zagajewski (mit Gemahlin) Gast bei Pszoniaks, nicht jedoch in der Arkońska Straße, ihr Treffen fand in Paris statt, bei Krabbensalat, Rindfleisch in Austernsoße und Rotwein. Adam war damals längst ein bekannter polnischer Dichter,
Pszoniak erfolgreicher Schauspieler, beide Emigranten. (Letzteres für Polen sehr typisch).
In Pszoniaks Buch, außer vielen Essays, unter anderem von Andrzej Wajda, Kazimierz Brandys und Joanna Roniker, ist auch ein kleiner Text von Adam Zagajewski: Der Name unserer Straße, genannt Arkońska,- schreibt er hier- wird nicht von dem Wort Arkus (Bogen) hergeleitet, sondern vom Cap Arkona, der, soweit ich mich erinnere, Rügen schmückt. Auch alle anderen Straßen des Stadtteils trugen diskret ideologische Namen: Łużycka, Wrocławska, Lutycka, Rugijska, Warmińska - es waren Zeichen eines geduldigen Prozesses etwas lügenhafter Vereinnahmung ehemals deutscher Gebiete durch das slawische Urelement. Was aber ging uns Kinder das an.
(Im Nachkriegs-Gliwice fiel es tatsächlich leichter Lemberger also Lwowianin zu sein, als ein hier geborener, oberschlesischer Autochthone).
In seinem Buch, das trotz vieler Kochrezepte weit mehr die Beschreibung gelungener Treffen mit berühmten Polnischen Kulturschaffenden ist, erwähnt Pszoniak jedoch nicht, was ihn mit Gliwice so stark verbindet. Es bleibt also zu ergänzen, dass im Freiheitsrausch der ersten politischen Tauwetterperiode nach Stalins Tod, in Zeiten größter politischer Hoffnungen, Studenten der Gleiwitzer Technischen Hochschule zwei Theatergruppen gründeten - die erste (STG) entstand 1960, die nächste, in künstlerisch verstandener Opposition dazu, konstituierte sich ein Jahr später unter dem Namen „Step“ und wurde dem damals 18-jährigen Pszoniak zum Sprungbrett einer erfolgreichen Schauspielkarriere.
Außer dieser Tatsache hat „Step“ aber auch noch weitere, wesentliche Spuren hinterlassen - seine Geschichte ist eng mit Tadeusz Różewicz verbunden, der in Gliwice lange lebte, hier dichterisch tätig war, dies aber heute selten erwähnt. Anfang der Sechziger konnten Gleiwitzer Studenten Polens großen Poeten für eine Zusammenarbeit gewinnen - obwohl erst nach längerer Bedenkzeit, gab er die Erlaubnis, sein Stück Zeugen, oder unsere kleine Stabilisierung auf die Gleiwitzer Studentenbühne zu bringen. Die Aufführung war außergewöhnlich erfolgreich und auch außerhalb von Gliwice berühmt. Andrzej Wirth, ein bedeutender Theaterkritiker bezeichnete sie als exemplarisches Model, mit dem sich alle weiteren Darbietungen werden vergleichen lassen müssen.
Zwar nie an der Gleiwitzer Technischen Hochschule immatrikuliert, wurde Wojciech Pszoniak zur bedeutendsten Persönlichkeit der von ihren Studenten gegründeten Bühne - Andrzej Wirth fand gleich, Pszoniak habe das Zeug zum großen Schauspieler.
So also, obwohl in alten Dekorationen, entwickelte sich ein neues, reges Leben – Gleiwitz-Gliwice wurde zum familiären Biotop, zur kleinen Heimat auch derer, die erst 1945 hier einzogen. Ruinen und alte Straßenamen verschwanden, man stellte neue Denkmäler auf, ehrte Chopin (einen Halbfranzosen) und Polens Nationaldichter Adam Mickiewicz, der aus dem östlichen, zu seiner Zeit polnischen Litauen stammt. (Deutsche Ureinwohner sprachen den Namen Mickiewicz lange falsch aus und blamierten damit ihre Kinder). Die alten Gleiwitzer Friedhöfe belebten neue Gräber, auch sonst überzog Vertrautes die fremde Vergangenheit - längst können neue Generationen vom eigenen Früher erzählen, Nachkommen gerührt die alte Schule zeigen oder ans winzige Kino erinnern, mit den so lächerlich billigen Eintrittskarten. Dass die kleine ehemals italienische Eisdiele in der Nähe des Rings nicht immer Śnieszka also Schneeflöckchen hieß, ist bedeutungslos, alles schmeckt hier ebenso gut, wie zu deutschen Zeiten. (Mittlerweile besuchen Gleiwitzer fast lieber McDonalds in der ehemaligen Wilhelmstraße).
Alter Tradition folgend, verlassen auch jetzt junge Menschen die Stadt - hauptsächlich aber, um außerhalb zu studieren. (Weiterhin wollen nicht alle Ingenieure oder Techniker werden). Von den früher erwähnten Schriftstellern verließ nur Bienek Gleiwitz aus historischem Zwang - Zagajewski und Kornhauser folgten eigenen Träumen und gingen als Abiturienten nach Krakau, um an der ehrwürdigen Alma Mater Cracoviensis ihr Wissen zu erweitern. Hier gründeten sie die Dichtergruppe Teraz (Jetzt) und verfassten gemeinsam einen Band programmatischer Abhandlungen mit dem Titel Die nicht dargestellte Wirklichkeit. Warum man in Polens Nachkriegsliteratur so wenig Raum gegenwärtigen Problemen zubilligte, war rhetorisch gemeint, sie präziser zu beschreiben dagegen als Postulat hervorgehoben. (Das Buch wurde seinerzeit von der Zeitschrift Polityka als beste Neuerscheinung ausgezeichnet). Auch Pszoniak verließ Gleiwitz – aber nur um an der Krakauer Schauspielschule zu studieren. Heute ist er einer der bedeutenden polnischen Theater- und Kinodarsteller, internationale Anerkennung brachte ihm Andrzej Wajdas Film Danton, Pszoniak spielte Robespierre, die Figur Dantons verkörperte Gerard Depardieu.
Różewicz, für den Gliwice wohl eher ein stilles, vom Kunstbetrieb entferntes Refugium war, (oder gar ein Ort der Verbannung?) ging nach Wrocław (früher Breslau), verliebte sich, wie er schreibt, in die unweit gelegenen, 450 Millionen Jahre alten Berge. Zu Gerhardt Hauptmanns Zeiten noch Riesengebirge genannt, heißen sie jetzt Karkonosze. Wer Różewicz aufmerksam liest, merkt sehr bald, dass er, trotz schwerwiegender Kriegserinnerungen, Kenner der deutschen Literatur und Philosophie ist.
Adam Zagajewski war von 1979 bis 1981 Stipendiat in West-Berlin Dort entstand sein Buch Polen, ein Staat im Schatten der Sowjetunion (auf Deutsch). Auch erste Konzepte des auf Berliner Erfahrungen basierenden, autobiographisch geprägten kleinen Künstlerromans „Dünner Strich“ (1983) haben dort ihren Ursprung. Das nicht ganz familiäre Gleiwitz brachte sich 2002 in Erinnerung, - die Münchener Akademie Schöner Künste ernannte Zagajewski zum Laureaten des Horst Bienek Preises.
Nach 1990, als so vieles wieder berührt werden wollte und konnte (in der polnischen und deutschen Geschichte ist manches weiterhin offen) wurde die Vergangenheit Oberschlesiens nicht zufällig zum Gegenstand eingehender Betrachtungen. Anhaltspunkte gab es genug, die Provinz war auf Grund ihrer Bodenschätze ein immer umworbenes, umkämpftes, gnadenlos ausgenutztes Objekt politischer Manipulationen, als Grenzland, ein Gebiet ständig aufflackernder deutsch-polnisch-Zusammenstöße. (Mittlerweile nennt man sie lieber historische Erfahrungen).
Lange entfärbt, beschnitten, zu großen Teilen einfach verschwiegen, wird die verworrene Oberschlesische Vergangenheit jetzt offen thematisiert. Gleiwitz-Gliwice - aus geschichtlicher Sicht ebenso deutsch, polnisch oder jüdisch, vorwiegend katholisch aber auch evangelisch geprägt, kommt nun mit vielen Stimmen zu Wort. Man darf davon ausgehen, dass die schöngeistige Literatur dabei eine wesentliche Rolle spielte - Vergangenes hatte Bienek der Stadt zurückgegeben, Nachfolgendes zeigten Zagajewski und Kornhauser in ihren Lebensbeschreibungen. Gliwice bereichert sich um weitere Gedenktafeln - neben der ältesten, die seit 1955 von der Wiederkehr der Stadt ins Polnische Mutterland erzählt, ehrt eine neue den deutschen Schriftsteller Horst Bienek. Die zuletzt angebrachte erinnert an Gleiwitzer Juden und den Standort ihrer 1938 abgebrannten Synagoge.
Wer Symbole liebt, kann sich daran erfreuen, dass im Piastenschlösschen, in der ehemals jüdischen Villa Caro und im ehemals Deutschen Stadtarchiv weitere Arbeiten unternommen werden. Die Geschichte der Stadt dokumentieren sie nicht nur aus Pietät – im heutigen, eine Vereinigung anstrebenden Europa, wiederholen sich die meisten, im Verlauf oberschlesischer Geschichte gestellten Fragen.
Dr. Phil. Barbara Klimczyk, geb. Skubella
Gleiwitz-Gliwice
Der Text ist in polnischer Sprache im Rocznik Muzeum w Gliwicach Tom XXI, Gliwice 2009 erschienen.
Ins Deutsche von der Autorin übertragen.